Kunst des Schönschreibens. Etymologisch leitet sich das Wort »Kalli-« vom altgriechischen »kalos« her, das »Schönheit« bedeutet; das Wort »-graphie« entspricht dem altgriechischen »-graphia« für das »Schreiben, Darstellen, Beschreiben« zu altgriechisch »graphein« für »ritzen, schreiben«. Allograph Kalligrafie.
Die Kalligraphie bzw. die Handschriftlichkeit prägte im Wesentlichen unsere gesamte, rund 7.500jährige Schriftgeschichte. Die Mehrheit aller westeuropäischen Druckschriften bzw. Screen-Schriften (Bildschirmschriften) basiert auf einer kalligraphischen Formgebung, deren Lettern- und Zeichenarchitektur maßgeblich durch die jeweilige Schreibtechnologie, also durch Schreibwerkzeuge, Schreibflüssigkeiten und Trägermaterialien bestimmt wurde. Europäische Handschriften von der Antike bis zur Renaissance werden in der Historischen Hilfswissenschaft Paläografie erforscht.
Als Schreibwerkzeuge dienen dem Kalligraphen/in bis heute überwiegend pflanzliche Rohre (z.B. Bambusfeder), Federkiele (z.B. Gänsekiel), Pinsel, Stahlfedern (z.B. Bandzugfeder, Spitzfeder, Redisfeder, Doppel-Strich-Feder, Notenlinienfeder), Stifte (z.B. Bleistifte, Kreidestifte) und Füllfederhalter. Als Trägermaterial bzw. Beschreibstoffe werden seit der Römerzeit mehrheitlich Papyrus, Pergament und Papier bevorzugt.
Schreibflüssigkeiten sind Tinten, Tuschen und Temperafarben, die bis zur industriellen Chemie manuell aus Pflanzen (z.B. Moosflechten für Grün, Gummiarabikum als Bindemittel, Nelkenöl zur Konservierung, gallierte Eichenblätter als Gerbsäure), Steinen (z.B. Lapislazuli für Blau) und Tieren (z.B. Purpurschnecke für Purpurrot, Tintenfisch für Sepia) hergestellt wurden.
Bis zur Erfindung der Typografie in der Frührenaissance zwischen 1450 und 1457 durch den Mainzer Prototypografen Johannes Gutenberg (um 1400–1468) wurden Bücher ausschließlich von Kalligraphen geschrieben und von sogenannten »Copisti« skriptographisch vervielfältigt. Meist entstanden in klösterlichen Skriptorien, Palastschreibschulen und Kanzleien kunstvoll illuminierte Bibeln, Psalter und wissenschaftliche Werke. Beispielsweise benötigte ein Kopist für die Abschrift einer Bibel in lateinischer Sprache durchschnittlich ein halbes Jahr.
Der Beruf des Kalligraphen war ausschließlich der männlichen, sozialen und politischen Elite vorbehalten; Tommaso Parentucelli etwa, der spätere Pontifex Papst Nikolaus V. (1447–1451), war vor seiner Berufung in den Vatikan in Florenz als Kopist tätig.
![Kalligraphie um 1538, mutmaßlich vom Nürnberger Kalligraphen und Mathematiker Johann Neudörf(f)er (1497–1563). Schriftprobenvergleich mit Neudörffers »Ein gute Ordnung, vnd kurtze vnterricht, der fürnemsten grunde aus denen die Jungen, Zierlichs schreybens begirlich, mit besonderer kunst vnd behendigkeyt vnterricht vnd geübt möge[n] werden«. Quelle: Bayerische Staatsbibliothek, München. Online verfügbar unter <a href="http://bildsuche.digitale-sammlungen.de/index.html?c=viewer&bandnummer=bsb00065307&pimage=00001&v=100&nav=&l=de" target="_blank">http://bildsuche.digitale-sammlungen.de/index.html?c=viewer&bandnummer=bsb00065307&pimage=00001&v=100&nav=&l=de</a> [20.7.2016]. Kalligraphie um 1538, mutmaßlich vom Nürnberger Kalligraphen und Mathematiker Johann Neudörf(f)er (1497–1563). Schriftprobenvergleich mit Neudörffers »Ein gute Ordnung, vnd kurtze vnterricht, der fürnemsten grunde aus denen die Jungen, Zierlichs schreybens begirlich, mit besonderer kunst vnd behendigkeyt vnterricht vnd geübt möge[n] werden«. Quelle: Bayerische Staatsbibliothek, München. Online verfügbar unter http://bildsuche.digitale-sammlungen.de/index.html?c=viewer&bandnummer=bsb00065307&pimage=00001&v=100&nav=&l=de [20.7.2016].](https://www.typolexikon.de/wp-content/uploads/2016/07/kalligraphie.jpg)
Berühmte Kalligraphen bzw. Schreibmeister waren unter anderen Coluccio Salutati (Florenz, 1331–1406), Poggio Bracciolini (Florenz, 1380–1459), Niccolo Niccoli (Florenz, 1364–1437), Ludovico degli Arrighi (Rom, 1480–1527), Giovanantonio Tagliente (Venedig, ca. 1. Hälfte 16.Jh.), Peter Schöffer (um 1425/1430–1502/1503), Damianus Moyllus (Paris, ca. 2. Hälfte 15.Jh.), Vincenz Rockner (Augsburg/Innsbruck, ca. 2. Hälfte 15.Jh./1. Hälfte 16.Jh.), Geoffroy Tory (Paris, 1480-1533), Leonhard Wagner (Augsburg, 1453–1522), Giambattista Palatino (Rom/Neapel, 1515–1575) und John Seddon (London, ca. 2. Hälfte 17.Jh.).
Zu den kalligraphischen Hauptbuchschriften römischen Ursprungs zählt die Paläografie die Capitalis quadrata (Römische Quadratschrift), die Uncialis (Unziale), die Carolina (Karolingische Minuskel), die Gotica (Gotische Minuskel), die Textura (Missal- oder Psalterschrift), die Rotunda (Rundgotische Schrift) und die Humanistica (Humanistische Minuskel).
Die Gotik stellt in paläographischer Hinsicht sicherlich die reichste Epoche der Kalligraphie dar. Die Textura, die zu den Gebrochenen Schriften zählt, gilt als die höchstentwickelte westeuropäische kalligraphische Hauptbuchschrift der Gotik. Sie war auch die Prototype der ersten Wiegendrucke Johannes Gutenbergs, so auch für seine 42-zeilige Bibel (1452–1454), die zu den schönsten und wertvollsten Inkunabeln gehört.
Die »Humanistica formata« und die »Capitalis quadrata« bildeten die Grundlage für die archetypische »Antiqua« der Typografie, die erstmals von den Mainzer Prototypografen Arnold Pannartz (o.A.–um 1476) und Conrad Sweynheym (o.A.–um 1474/1477) im Benediktinerklosters von Subiaco in der Provinz von Rom gedruckt wurde. 1)
Heute spielt die Kalligraphie im Materialisieren von Sprache und Gedanken keine nennenswerte Rolle mehr. Sie findet in geringem Umfang nur noch privat, in der Kunst und im Grafikdesign 2) Anwendung, beispielsweise bei der Entwicklung von Wortbildmarken oder bei der Beschriftung von Urkunden. Selbst in der Schriftgestaltung wurde sie durch den Einsatz von Electronic Publishing-Software, beispielsweise Fontographer ®, nahezu vollständig verdrängt. 3) 4) 5) 6) 7) 8)
© Wolfgang Beinert, www.typolexikon.de
Quellen / Literatur / Anmerkungen / Tipps:
↑1 | Quelle: Falkenstein, Karl: Geschichte der Buchdruckerkunst, Verlag und Druck Teubner, Leipzig 1840. Online verfügbar bei Google Books unter https://books.google.de/books?id=V-pdAAAAcAAJ&lpg=PA209&ots=Jfok5HoCi6&dq=Conrad%20Sweynheym&hl=de&pg=PR3#v=onepage&q=Conrad%20Sweynheym&f=false [29.Juli 2016]. |
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↑2 | Tipp: Digitale (künstliche) Schreibschriften werden leider immer noch gerne für Speisekarten, Einladungen etc. verwendet. Die Autoren glauben, dass eine Handschrift persönlicher und verbindlicher wirkt. Das ist bei echten Handschriften sicherlich richtig. Aber bei digitalen Schreibschriften ist das Gegenteil der Fall. Denn jeder kann heute eine echte Schreibschrift von einer PC-generierten Schreibschrift unterscheiden. Deshalb werden heute digitale Schreibschriften in der Regel als unnatürlich und billig eingestuft. Digitale Schreibschriften (Zierschriften) sollten deshalb nur von sehr geübten Typografen/innen eingesetzt werden; denn der Übergang zum »spießigen Kitsch« ist ziemlich schnell erreicht. Besser ist es, Urkunden, Einladungen etc. von einem Kalligraphen/in bzw. von einem Hand Lettering Studio beschriften zu lassen. |
↑3 | Literaturempfehlung: Mazal, Otto: Paläographie und Paläotypie. Zur Geschichte der Schrift im Zeitalter der Inkunabeln, Verlag Anton Hiersemann, Stuttgart 1984. |
↑4 | Literaturempfehlung: Mazal, Otto: Lehrbuch der Handschriftenkunde, Reichert, Wiesbaden 1986. |
↑5 | Literaturempfehlung: Delitsch, Hermann: Geschichte der abendländischen Schreibschriftformen, Leipzig 1928. |
↑6 | Literaturempfehlung: Foerster, Hans: Abriß der lateinischen Paläographie, Verlag Haupt, Bern 1949; Nachdruck Stuttgart 1981. |
↑7 | Literaturempfehlung: Tschichold, Jan: Meisterbuch der Schrift, Otto Maier Verlag, Ravensburg 1952 und Folgejahre, ISBN-10: 3-473-61100-x oder ISBN-13: 978-3473611003. |
↑8 | Literaturempfehlung: Pott, Gottfried: Schreiben mit Hand und Herz, Kalligrafische Erfahrungen, Verlag Hermann Schmidt, Mainz, ISBN 978-3-87439-886-2. |