Hurenkind
Hurenkind ist ein typografischer Fachausdruck aus dem gewerbespezifischen Sprachschatz dspr. Schriftsetzer und Drucker aus der Periode des materiellen Schriftsatzes mit physischen Drucktypen aus Metall (z.B. aus einer Blei-Zinn-Antimon-Kupfer-Legierung) für einen Fehler im Umbruch eines typografischen Schriftsatzes; Umbruchfehler; letzte Zeile eines Absatzes, die fehlerhaft alleine am Anfang einer neuen Kolumne, also am Anfang einer neuen Seite steht. Ehemals auch als »Hurensohn« oder »Hundesohn«, heute als »Witwe« bezeichnet. 1)
»Hurenkinder« stören den Lesefluss und gelten als unvorteilhaft für die Ästhetik eines Schriftsatzes.

Die typografische Satzregel lautet:
Die letzte Zeile eines Absatzes darf niemals am Anfang einer neuen Kolumne stehen.
Ein ähnlicher Umbruchfehler ist der »Schusterjunge«, der heute auch als »Waisenkind« oder »Findelkind« bezeichnet wird.
Bei Textverarbeitungssoftware, z.B. Word® von Microsoft® oder Pages® von Apple® und DTP Desktop Publishing Software, z.B. InDesign® von Adobe® oder QuarkXpress® von Quark®, können derartige Umbruchfehler automatisch durch die gezielte Formatierung der »Absatzkontrolle« bzw. durch die Wahl geeigneter »Umbruchoptionen« vermieden werden. 2)
Etymologie
Seit wann und durch wen der Begriff »Hurenkind« in den gewerbespezifischen Sprachschatz der Schriftsetzer Einzug fand, ist nicht bekannt. Den Prototypografen (Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern bis 1500) war der Begriff jedenfalls nicht bekannt, wie ebenso wenig den nachfolgenden Generationen von Typografen, unter ihnen Aldus Manutius (1449–1515), John Baskerville (1706–1775), Pierre Simon Fournier (1712–1768), Firmin Ambroise Didot (1764–1836) oder Giambattista Bodoni (1770–1813), die sich bis ins frühe 19. Jahrhundert mehrheitlich einer lateinisch und griechisch orientierten Gelehrtensprache bedienten. 3)
Der Begriff »Hurenkind« taucht im deutschsprachigen Raum erst mit der Proletarisierung der Typografie, also mit der prosperierenden Industrialisierung, insbesondere ab den 1890er Jahren mit dem Maschinenschriftsatz auf. In dieser Zeit entstand eine Fachsprache, die kurz, knapp und wenig erklärungsbedürftig war und den Anforderungen an die weniger gebildeteren »Stehkragenproletarier« 4) großer Zeitungsdruckereien effektiv erfüllte.
Merksätze à la »Ein Schusterjunge muss unten im Keller arbeiten, ein Hurenkind steht oben verloren auf der Straße« oder »Ein Hurenkind weiß nicht, wo es herkommt, ein Schusterjunge nicht, wo er hingeht« dienten als »Eselsbrücken« in der Lehre.
Soziolinguistisch ist die Bezeichung »Hurenkind« (Kind einer Prostituierten) auch ein Indiz dafür, dass der Beruf des Schriftsetzers bis Mitte des 20. Jahrhunderts ausschließlich von Männern ausgeübt wurde. Heute wird stattdessen der Fachbegriff »Witwe« verwendet.
© Wolfgang Beinert, www.typolexikon.de
Quellen / Literatur / Anmerkungen / Tipps:[+]
| ↑1 | Anmerkung: Der Begriff »Hurenkind« sollte heute vermieden werden, da er sicherlich nicht mehr zeitgemäß und politisch inkorrekt ist. Er spiegelt heute eine unreflektierte Geisteshaltung gegenüber Frauen und Kindern wieder. |
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| ↑2 | Exempel: Formatierung von Absätzen und »Möglichkeiten der Absatzkontrolle« bei Adobe® Indesign®, Benutzerhandbuch, online verfügbar unter https://helpx.adobe.com/at/indesign/using/formatting-paragraphs.html (13.01.2021). |
| ↑3 | Anmerkung: Diese Quintessenz erschließt sich aus der typografischen Fachliteratur ab 1500 bis heute. |
| ↑4 | Anmerkung: Während der Industrialisierung und der entstehenden Arbeiterbewegung (»Proletarier aller Länder, vereinigt euch!«) wurden Schriftsetzer bei großen Zeitungsdruckereien als »Stehkragenproletarier« bezeichnet, was daher rührte, dass sie im Handsatz stehend – meist mit Stehkragen und Krawatte – ihrer Arbeit nachgingen und sie sich gezielt – durch Kleidung und Fachwortschatz – von den anderen Arbeitern abgrenzten, weil sie sich – aufgrund ihrer reichen, elitären typografischen Tradition – nicht der »neuen« Arbeiterklasse zugehörig fühlten. Der Begriff wurde dann später verallgemeinert und auch auf andere Angehörige der Arbeiterklasse erweitert, die sich durch einen sozialen Aufstieg, z.B. als Angestellte, über ihre ehemaligen »Standesgenossen« erhoben haben. |