Schattenachse
Der Begriff »Schattenachse« stammt aus der Kalligrafie und wurde von der Typografie und der Schriftgestaltung übernommen. Bei handgeschriebenen bzw. kalligrafischen Lettern bezieht sich der Begriff auf eine imaginäre Achse zwischen zwei Koordinaten mit den geringsten Strichstärken eines Buchstabens oder Zeichens römischen Ursprungs. Festgelegt wird die Schattenachse durch den Duktus, der u.a. durch die Haltung und Führung eines Schreibgeräts, beispielsweise einer Breit- oder Rohrfeder, geprägt wird.

Insbesondere bei runden Buchstaben mit Binnenräumen (Punzen), z.B. beim »o«, verläuft die Schattenachse zwischen den Stellen mit den geringsten Strichstärken und halbiert auf den ersten Blick das runde Schriftzeichen. Die Schattenachse wird deshalb oft auch fälschlicher Weise als Symmetrieachse bezeichnet; fälschlicher Weise, denn die imaginäre Schattenachse teilt in den wenigsten Fällen ein Schriftzeichen in zwei gleich große Teile. Dieses Phänomen trägt zur Einzigartigkeit des Schreibduktus bei und ermöglichen es auch, individuelle Schreibstile zu identifizieren.
Die Schattenachse kann allerdings die Achsstellung eines Schriftzeichens beeinflussen, muss sie aber nicht. Bei gedruckten Schriften ist die Schattenachse nicht nur ein ästhetisches Element in der Schriftgestaltung, sondern auch ein wichtiges Merkmal zur Identifikation von Schriften hinsichtlich der Schriftklassifikation. So lassen sich klassische Drucktypen unterschiedlicher Epochen oft auch anhand der Ausrichtung der Schattenachse unterscheiden. Insbesondere Antiqua-Schriften und Gebrochene Schriften neigen dazu, charakteristische Neigungen, Strichstärken und Wechselzüge zu bevorzugen, die eine klare Identifikation und Einordnung ermöglichen. Bei serifenlosen Schriften, also Grotesk-Schriften, ist dieses wiederum selten zu finden.
Moderne Analysewerkzeuge, beispielsweise Deep Learning Software wie WhatTheFont ® von Monotype ®, 1) ermöglichen eine präzise Erfassung und Quantifizierung von Schattenachsen. Diese Methoden ermöglichen eine tiefgehende Untersuchung von Schriften und unterstützen die Entwicklung von Klassifikationsalgorithmen für Druckschriften und Screen Fonts.
Seit wann und warum der Begriff verwendet wurde oder woher er stammt, ist nicht bekannt. Etymologisch rührt der Begriff »Schatten« jedenfalls vom althochdeutschen Wort »scato« ab, was u.a. »Dunkelheit«, »ständiger Begleiter« oder »etwas kaum Erkennbares« bedeutet. Im kalligrafischen Kontext könnte sich dieser Wortteil vielleicht auf den durch Licht verursachten Schatten beziehen, der durch die Strichstärkevariation von Buchstaben oder anderen kalligrafischen Elementen entsteht. Der Begriff »Achse« hat seine Wurzeln im lateinischen Wort »axis«, was eine »Achse« oder »Drehachse« bedeutet. In der Typografie könnte das Kompositum vermutlich einfach nur metaphorisch verwendet worden sein, um eine imaginäre, optisch gefühlte Achse durch das Schriftzeichen zu beschreiben.
© Wolfgang Beinert, www.typolexikon.de
Quellen / Literatur / Anmerkungen / Tipps:[+]
| ↑1 | Anmerkung: »WhatTheFont« ist Schrifterkennungstool, das auf dem Handelsportal »Myfonts« online unter https://www.myfonts.com/de/pages/whatthefont zur Verfügung steht (11.3.2024). |
|---|