Typografischer Terminus aus der Buchtypografie bzw. Buchgestaltung für einen Teilungskanon (Buchkanon), mit welchem man ohne jeden Maßstab in jedem Rechteck eine Strecke präzise in beliebig viele gleiche Teile teilen kann. Auch als »Villardscher Buchkanon« oder »Geheimer Kanon« bezeichnet; alternative Schreibweise: »Villard´scher Teilungskanon«. Konstruktionsprinzip, um einen Buchsatzspiegel bzw. Gestaltungsraster in einen gleichmäßigen, z.B. in einen neun-, zehn- oder zwölfgeteilten Flächenraster zu gliedern. Der Entwurf eines Satzspiegels bzw. Gestaltungsrasters gehört in das Segment der Makrotypografie.
Der »Villardsche Teilungskanon« ist eines der meistpraktizierten frühgotischen Schemata zur geometrisch exakten, in Form, Proportion und Ästhetik ausgewogenen Teilung von rechteckigen Flächen. Dieses auch als »Villardsche Figur« oder als »Villardsches Diagramm« bekannte geometrische Schema stammt aus der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts und wurde nach dem Dombaumeister Villard (um 1230–1235) aus Honnecourt-sur-l’Escault, einem Dorf nahe Cambrai in der nordfranzösischen Picardie, benannt. 1) 2) 3)

Dieses auf Koordinaten, Diagonalen und Symmetrien basierende, eigentlich architektonische Konstruktionsprinzip, kam in der mittelalterlichen kunsthandwerklichen Praxis neben der Architektur speziell bei der Gestaltung von Folios (Seiten) und Kolumnen für Prachthandschriften und illuminierte Kodizes zur Anwendung. In späterer Folge bei der Gestaltung von Inkunabeln bzw. in der Typografie. Beispielsweise stimmt der Buchsatzspiegel der 42-zeiligen Gutenberg-Bibel (um 1455) von Johannes Gutenberg (um 1400–1468) im gebundenen, offenen Format, mehr oder weniger mit dem Villardschen Teilungskanon überein.
Das »Livre de portraiture« des Villard de Honnecourt
Über die Lebensumstände Villard de Honnecourt, wie er in der Architektur und der Kunstgeschichte genannt wird, ist so gut wie nichts bekannt. Dokumentiert wird seine Existenz durch das um 1230 entstandene, für diese Periode einzigartige »Livre de portraiture«, in dem der Autor sich selbst als »Vilars de honcort« vorstellt und das seit 1795 in der Französischen Nationalbibliothek in Paris. 4) aufbewahrt wird. Dieses nur 33 Seiten umfassende Skizzenbuch enthält neben fast zweihundertfünfzig Detailstudien auch theoretische Anmerkungen zu jeder Kategorie der gotischen Kunst und ihrer Ikonographie, vor allem aber zur Proportion als idealem Prinzip und Inbegriff der mittelalterlichen Ästhetik.
Villards »Bauhüttenbuch« ist in einer schönen, deutlich lesbaren, fast kalligrafiert anmutenden Minuskelhandschrift im altfranzösischen Idiom der Picardie verfasst, was den individuellen Charakter dieses kostbaren Zeitdokuments verstärkt. Mehrmals erwähnt Villard ausgedehnte Reisen, die sich anhand von zahlreichen Grundrissen, Interieur- und Fassadenskizzen der besichtigten Bauwerke leicht nachvollziehen lassen: so etwa in Frankreich die Kathedralen von Cambrai, Chartres, Laon, Meaux, Reims und die Abtei von Vaucelles; in der Schweiz der Dom von Lausanne und in Ungarn die Abtei Pilis.
Die erste Faksimile-Edition dieses bedeutenden Manuskripts erfolgte 1858 durch den Pariser Architekten Jean-Baptiste-Antoine Lassus (1807–1857), der gemeinsam mit dem Architekten und Denkmalpfleger Eugène Viollet-le-Duc (1814–1879) an der Restaurierung der gotischen Kathedralen Frankreichs gearbeitet hatte. 5)
Buchsatzspiegel und Gestaltungsraster
In der typografischen Literatur sind heute insbesondere die Interpretationen der Villardschen Diagramme als Grundlage für Konstruktionsverfahren von Gestaltungsrastern durch den niederländischen Typografen Joh. A. van de Graaf (?), 6) den argentinischen Typografen Raúl Rosarivo (1903–1966) 7) und den deutschen Typografen Jan Tschichold (1902–1974) 8) geläufig.
Villardscher Teilungskanon versus Goldener Schnitt
Erfahrungsgemäß wird der Villardsche Teilungskanon in der typografischen Literatur und Lehre oft fälschlicher Weise mit dem »Goldenen Schnitt« bzw. mit der Zahlenreihe des Mathematikers Leonardo Fibonacci (1170–1240) – den sog. »Fibonacci Zahlen« – gleichgesetzt. Dies sind jedoch zwei völlig unterschiedliche mathematische Methoden, um Flächen zu teilen, auch wenn das Ergebnis auf den ersten Blick verblüffend ähnlich sein kann.

© Wolfgang Beinert, www.typolexikon.de
Quellen / Literatur / Anmerkungen / Tipps:
↑1 | Literaturempfehlung: Hahnloser, H.R. (Hg.): Villard de Honnecourt. Kritische Gesamtausgabe des Bauhüttenbuches, ms. fr. 19093 der Pariser Nationalbibliothek, Wien 1935. |
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↑2 | Literaturempfehlung: Umberto Eco: Arte e bellezza nell‘ estetica medievale. Bompiani editore, Mailand 1987. |
↑3 | Literaturempfehlung: Barnes, Carl F.: The Portfolio of Villard de Honnecourt, the artist and his drawings. Michigan 2002. |
↑4 | Quelle: »Livre de portraiture«, Bibliothèque nationale de France, Paris. Online verfügbar unter http://www.bnf.fr/fr/acc/x.accueil.html und http://classes.bnf.fr/villard/index.htm [17.2.2020]. |
↑5 | Literaturempfehlung: Lassus, Jean-Baptiste: Considérations sur la renaissance de l’art français au XIXe siècle. Préface à l’Album de Villard de Honnecourt. Paris: Imprimerie impériale, 1858. |
↑6 | Anmerkung: Ein »Joh. A. van de Graaf« wird nur von Jan Tschichold in seinem Buch »Ausgewählte Aufsätze über Fragen der Gestalt des Buches und der Typografie« im Anhang auf Seite 74 als Quelle genannt. Dieser »Joh. A. van de Graaf« soll laut Tschichold 1946 in der Amsterdamer Zeitschrift Tété ein Konstruktionsverfahren vorgestellt haben, dass für beliebige vorgegebene Seitenproportionen im Rahmen der Diagonalkonstruktion eine sinnvolle Textblockgröße festlegt. Eine zweite Quelle für diese Behauptung Tschicholds konnte bisher nicht gefunden werden. |
↑7 | Quelle: Rosario, Raúl Mario: Divina proportio typografica, La Plata, Argentina, 1948. |
↑8 | Quelle: Tschichold, Jan: Ausgewählte Aufsätze über Fragen der Gestalt des Buches und der Typografie, Birkhäuser Verlag Basel. 1975, zweite Auflage 1987. ISBN 3-7643-1946-1. |