Schusterjunge
»Schusterjunge« ist ein typografischer Fachausdruck aus dem gewerbespezifischen Sprachschatz dspr. Schriftsetzer und Drucker aus der Periode des materiellen Schriftsatzes mit physischen Drucktypen aus Metall (z.B. aus einer Blei-Zinn-Antimon-Kupfer-Legierung), Holz (z.B. aus Birnenholz) oder Kunststoff (z.B. aus Kunstharz) für einen Fehler im Umbruch eines Schriftsatzes, bei dem die erste Zeile (oder Headline) eines neuen Absatzes oder Kapitels irrtümlich als einzelne Zeile (oder als verbundlose Headline) am Ende der vorausgehenden Kolumne bzw. Seite steht; Umbruchfehler. Auch als »Findelkind« oder »Waisenkind« bezeichnet. Ein Schusterjunge stört den Lesefluss und gilt als unvorteilhaft für die Ästhetik eines Schriftsatzes.

Die korrekte Satzregel lautet:
Die erste Zeile eines Absatzes bzw. die Headline darf niemals alleine am Ende der vorangehenden Kolumne stehen.
Ein ähnlicher Umbruchfehler ist die »Witwe«, die früher auch als »Hurenkind« bezeichnet wurde.
Bei Textverarbeitungssoftware, z.B. Word® von Microsoft® oder Pages® von Apple® und DTP Desktop Publishing Software, z.B. InDesign® von Adobe® oder QuarkXpress® von Quark®, können derartige Umbruchfehler automatisch durch die gezielte Formatierung der »Absatzkontrolle« bzw. durch die Wahl geeigneter »Umbruchoptionen« vermieden werden. 1)
Etymologie
Seit wann genau und wer den Fachbegriff wo eingeführt hat, ist unbekannt. Es gibt im Wesentlichen zwei mögliche Ursprünge des Begriffs:
Hypothese 1
Der Begriff »Schusterjunge« taucht vermutlich – wie ähnliche profane Fachbegriffe, beispielsweise Hurenkind oder Fliegenkopf – erst mit dem 19. Jahrhundert im Zuge der fortschreitenden Industrialisierung und der einhergehenden Proletarisierung der Typografie, bei der Ausbildung von Hand- und Maschinenschriftsetzern in Zeitungsverlagen und großen Buchdruckereien auf.
In dieser Zeit entstand eine Fachsprache, die kurz, knapp und wenig erklärungsbedürftig war und den Anforderungen an die weniger gebildeten »Stehkragenproletarier« 2) großer Zeitungsdruckereien effektiv erfüllte.
Ziel der Ausbilder war es u.a., die ehemals durch die Frühdrucker geprägte Fachsprache und die durch die Technik des 18. Jahrhunderts geprägten Termini zu einem leicht verständlichen, umgangssprachlich modern orientierten Sprachschatz zu formen, dem auch geringer Gebildete folgen konnten und der bei der Wahl zu einer Ausbildung zum Schriftsetzer oder Buchdrucker nicht abschreckte. 3)
Merksätze à la »Ein Schusterjunge muss unten im Keller arbeiten, ein Hurenkind steht oben verloren auf der Straße« oder »Ein Hurenkind weiß nicht, wo es herkommt, ein Schusterjunge nicht, wo er hingeht« dienten als »Eselsbrücken« in der Lehre.
Im Falle des Schusterjungen rührt der Vergleich vermutlich daher, dass das Schicksal eines Schusterjungen – in Österreich auch als »Schusterbube« bezeichnet – im Volksmund als unglückliche Figur galt. Ein Schusterjunge war der »Stift« (Lehrling) eines Schustermeisters. Ein Schusterjunge galt im Volksmund als vorwitzig, frech und unüberlegt, der den ganzen Tag arbeitend im Keller verbringen musste (in den großen Städten wie Berlin oder Wien befanden sich die Schuster meist im Keller bzw. Parterre eines Mietshauses) und auch als Lieferjunge für seinen Lehrmeister fungierte.
Beispielsweise beschreibt 1904 der deutsche Schriftsteller Richard Zoozmann (1863–1934) in einem achtstrophigen Reim den »Berliner Schusterjunge« wie folgt:
» (…)
Tagüber kauert der kleine Wicht
Im Keller bei dürftigem Sonnenlicht,
Putzt Stiefel und schält Kartoffel.
Der Meister gerbt ihm tüchtig das Fell,
Die Meisterin schilt ihn – und Bursch und Gesell,
Die nennen ihn Stiesel und Stoffel.
Ein trauriges Leben – getreten, geduckt;
Und manches heimliche Thränlein schluckt
Der arme Bursche hinunter.
Sein Los ist so schwarz wie sein Lederschurz
Ein Glück, dass der Jugend Gedächtnis so kurz:
Im Nu ist sie fröhlich und munter.
(…) « 4)
Die Eselsbrücke »unten im Keller« zu »unten am Absatz« nebst der zugeschriebenen Eigenschaften eines Schusterjungen dürfte die Inspiration für eine derartige Merkhilfe gewesen sein.
Hypothese 2
Falls der Begriff bereits vor dem 19. Jahrhundert auftaucht, dürfte der Ursprung ein anderer sein. Denn bis zum Ende des 19. Jahrhunderts hatten Schuster – vor allem in Städten mit wohlhabenden Kunden – ein gutes Auskommen, denn sie hatten direkten Kontakt zum Endkunden und eine höhere Wertschöpfung als beispielsweise Gerber, die nur »zuarbeiteten«. Die Schuster konnten folglich zusätzliche »Mäuler stopfen«. Erst durch industriell hergestellte Schuhe setzte eine Massenverarmung der Schuster ein, denn es blieb meist nur noch die Flickschusterei.
In den Jahrhunderten vor der Industrialisierung war ein Schuster also ein in guten Verhältnissen lebendes Gemeindemitglied mit sicherem Einkommen. Daher war es oft der Schuster, der einen verwaisten Jungen als zusätzlichen Lehrjungen neben dem ältesten leiblichen Sohn aufnehmen und versorgen konnte (musste).
Die Übernahme des Geschäftes war jedoch dem leiblichen Sohn vorbehalten. Dem verwaisten Schusterjungen blieb nur die Hoffnung, dass nach der Lehrzeit an einem anderen Ort ein Schuster gesucht wurde. Daher wussten diese Schusterjungen während der Lehrzeit nicht, wohin sie nach der Lehrzeit als Schuster gehen konnten. Ihre Zukunft war ungewiss.
Die Waisenkindaufnahme durch Handwerkszünfte ist bereits seit dem Mittelalter (und vermutlich davor) schon das Mittel der Wahl für die zahlreichen Hinterbliebenen von Seuchen, Krankheiten und Kriegen gewesen. 5)
Beispiel einer mittelalterlichen Zunftordnung:
(…) Zum achten solle keiner auf das handwerck verdingt werden, er seye denn ehrlich gebohrn und eines redlichen herkhommens oder per rescriptum principis legitimieret, worvon auch die frembde und auslandische jungen, jedoch dies denen einheimbischen caeteris paribus vor disen der vorzug gelassen werde, keineswegs auszuschliessen. (…) Dahingegen die maister jene arme und waisenkinder, welche ihnen von der obrigkeit aus denen waisen- und zuchthausern zu erlehrnung des handwercks gegeben worden, gratis aufdingen und gegen verlängerung der jung jahren ihnen das handwerck getreulich, gleich anderen, so das aufding- und lehr gelt zu bezahlen bemittelt seynd, lehren; sie auch nach vollenden lehrjahren und genuegsam gezeigter prob ihres erlehrnten handwercks ohne entgelt freysagen sollen. (…)
Vermutlich könnte der Ursprung des Begriffs Schusterjunge eine Mischung aus beiden Hypothesen sein. Somit ließen sich auch die Synonyme »Findelkind« oder »Waisenkind« besser nachvollziehen.
© Wolfgang Beinert, www.typolexikon.de
Quellen / Literatur / Anmerkungen / Tipps:[+]
| ↑1 | Quelle: Formatierung von Absätzen und Möglichkeiten der Absatzkontrolle bei Adobe® Indesign® CS6, Benutzerhandbuch, online verfügbar unter https://helpx.adobe.com/at/indesign/using/formatting-paragraphs.html (14.4.2023). |
|---|---|
| ↑2 | Anmerkung: Während der Industrialisierung und der entstehenden Arbeiterbewegung (»Proletarier aller Länder, vereinigt euch!«) wurden Schriftsetzer bei großen Zeitungsdruckereien als »Stehkragenproletarier« bezeichnet, was daher rührte, dass sie im Handsatz stehend – meist mit Stehkragen und Krawatte – ihrer Arbeit nachgingen und sie sich gezielt – durch Kleidung und Fachwortschatz – von den anderen Arbeitern abgrenzten, weil sie sich – aufgrund ihrer reichen, elitären typografischen Tradition – nicht der »neuen« Arbeiterklasse zugehörig fühlten. Der Begriff wurde dann später verallgemeinert und auch auf andere Angehörige der Arbeiterklasse erweitert, die sich durch einen sozialen Aufstieg, z.B. als Angestellte, über ihre ehemaligen »Standesgenossen« erhoben haben. |
| ↑3 | Literaturempfehlung: Wolf, Hans-Jürgen: Geschichte der graphischen Verfahren, Historia Verlag, Dornstadt, ISBN 3-980-0257-4-8. |
| ↑4 | Quelle: Zoozmann, Richard Hugo Max: Berliner Schusterjunge, zweiter und dritter Reim in »Die zehnte Muse«, Dichtungen vom Brettl und fürs Brettl, Seite 350–351, Otto Eisner Verlag, Berlin, 1904. |
| ↑5 | Anmerkung: Die Hypothese 2 gründet auf den Recherchen von Michael Weber (E-Mail vom 16.3.2023 an Wolfgang Beinert), der aus einer langen Reihe von Schustern abstammt. |