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Inkunabel

6. August 2024

Der Begriff »Inkunabel« entstammt der Paläotypie und Paläografie und bezeichnet Druckwerke mit beweglichen Lettern aus den ersten fünfzig Jahren des Buchdrucks. Diese Ära erstreckt sich von den frühesten Experimenten von Johannes Gutenberg (um 1400–1468) um 1438 bis zum 31. Dezember 1500. In dieser Zeit lag das eigentliche Druckerhandwerk noch in der Wiege, wodurch sich der Begriff »Wiegendruck« etablierte. Die Inkunabeln, auch als »Wiegenkinder« bezeichnet, repräsentieren die Anfänge einer revolutionären Ära in der Geschichte des Druckens.

Die Etymologie des Wortes »Inkunabel« leitet sich vom lateinischen »incunabula« ab, was so viel wie »Wiege« oder »Windeln« bedeutet und metaphorisch auf den Ursprung und die erste Kindheit des Buchdrucks hinweist. Der Begriff wurde vermutlich erstmals in der handschriftlichen Bibliografie von Bernhard von Mallinckrodt (1591–1664) im 17. Jahrhundert verwendet.

Charakteristisch für Inkunabeln ist ihre klare Orientierung an der Kalligrafie in Form, Schrift und Bildsprache. Die Wiegendrucke weisen reich ornamentierte Initialen auf und verzichten in der Regel auf Titelblätter und Impressum. Bibliographische Angaben finden sich stattdessen im »Incipit« (Einleitungssatz) oder im abschließenden »Kolophon« des Textes. 1)  2)  3)  4)

Anfang des »Buchs Genesis« (Schöpfungsbericht) einer der 42-zeiligen Gutenberg-Bibel aus dem Bestand der Staatsbibliothek Berlin. Quelle: Fol. 5r, Bd. 1 des illuminierten Exemplars der Staatsbibliothek Berlin.
Anfang des »Buchs Genesis« (Schöpfungsbericht) einer 42-zeiligen Gutenberg-Bibel aus dem Bestand der Staatsbibliothek Berlin. Quelle: Fol. 5r, Bd. 1 des illuminierten Exemplars der Staatsbibliothek Berlin.
Faksimile einer 42-zeiligen Gutenberg-Bibel. Original gedruckt von Johannes Gutenberg in Mainz um 1455. Quelle: New York Public Library, 2009.
Faksimile einer 42-zeiligen Gutenberg-Bibel. Original gedruckt von Johannes Gutenberg in Mainz um 1455. Quelle: New York Public Library, 2009.

Die Gutenberg-Bibel

Zu den wichtigsten Wiegedrucken zählt die 42-zeilige Gutenberg-Bibel, auch bekannt als »Gutenberg-B42«. Sie ist ein herausragendes Meisterwerk der Inkunabelzeit. Produziert wurde diese Bibel zwischen den Jahren 1452 und 1455 in Mainz, Deutschland, von Johannes Gutenberg (um 1400–1468) in Zusammenarbeit mit seinem Geschäftspartner Johann Fust (um 1400–1466).

Das Format dieser Bibel ist beeindruckend, mit etwa 42 Zeilen pro Seite, was ihr den Namen »42-zeilig« verleiht. In zwei Bänden, dem Alten und dem Neuen Testament, umfasst sie etwa 1286 Seiten. Gutenberg setzte für diese Bibel erstmals bewegliche Metalltypen aus einer Bleilegierung ein, was einen effizienteren und kostengünstigeren Druckprozess ermöglichte. Jede Seite wurde durch den Druck von Holzblockinitialen, die von Hand koloriert wurden, verziert.

Diese Bibel wurde in einer gotischen Schriftart gedruckt, die dem Stil der handgeschriebenen Manuskripte der Zeit ähnelte. Der Text wurde in einer klaren und gut lesbaren Textura gestaltet, die speziell für diesen Druck entwickelt wurde. Die meisten Exemplare der Gutenberg-Bibel wurden auf hochwertigem Pergament gedruckt, was sie noch wertvoller machte. Es wird geschätzt, dass nur etwa 30 Exemplare auf Pergament existieren, während die restlichen auf Papier gedruckt wurden.

Im Vergleich zu späteren Inkunabeln enthielt die Gutenberg-Bibel relativ wenige Illustrationen. Dennoch wurden einige Holzschnitte in den Druck integriert, darunter Initialen und Abbildungen biblischer Szenen. In ihrer Struktur und Aufmachung folgt die Bibel noch stark den Traditionen der handschriftlichen Manuskripte. Sie verfügt nicht über Titelblätter im modernen Sinne, und bibliografische Angaben sind im Text selbst oder im Kolophon zu finden.

Es wird geschätzt, dass von der Gutenberg-Bibel zwischen 180 und 185 Exemplare gedruckt wurden. Davon existieren heute noch etwa 48 bekannte vollständige oder teilweise erhaltene Exemplare, darunter einige auf Pergament. Die 42-zeilige Gutenberg-Bibel markiert nicht nur den Beginn des Buchdrucks, sondern auch einen Meilenstein in der Geschichte der Typografie und Buchgestaltung. Sie ist ein Symbol für die technologischen und kulturellen Veränderungen, die mit der Erfindung des Buchdrucks einhergingen.

Die 42-zeilige Gutenberg-Bibel zählt zu den kostbarsten Schätzen unter den Inkunabeln und wird von Sammlern und Bibliophilen hoch geschätzt. Ihr Erhaltungszustand und ihre Seltenheit tragen zu ihrem hohen Wert auf dem Antiquariat- und Auktionsmarkt bei.

Die Schedel’sche Weltchronik

Als eine der schönsten und wertvollsten Inkunabeln gilt neben der 42-zeiligen Gutenberg-Bibel in lateinischer Sprache die Schedel’sche Weltchronik. Die Schedel’sche Weltchronik von 1493, auch bekannt als »Nürnberger Chronik« oder »Liber Chronicarum« (Buch der Chroniken), ist ein herausragendes Werk der Inkunabelzeit. Geschrieben wurde sie von Hartmann Schedel (1440–1514), einem deutschen Arzt, Humanisten und Historiker, der den Drucker Anton Koberger (1440–1513) aus Nürnberg mit der Veröffentlichung beauftragte.

Dieses bedeutende Werk umfasst mehr als 1.800 illustrierte Holzschnitte und Textblöcke. Die Holzschnitte wurden von den Künstlern Michael Wolgemut (1434–1519) und seinem Schwiegersohn Wilhelm Pleydenwurff (um 1450–1494) angefertigt. In Latein verfasst, spannt die Weltchronik den Bogen von der Schöpfung bis zur Zeit ihrer Entstehung.

Besonders hervorzuheben sind die reichhaltigen Illustrationen, die historische Ereignisse, Städteansichten, Naturkatastrophen, Porträts und mythologische Szenen darstellen. Es handelt sich um eines der ersten Bücher, das systematisch Stadtansichten enthält, und gewährt einen faszinierenden Einblick in das städtische Leben des späten 15. Jahrhunderts.

Einige Exemplare der Weltchronik wurden von zeitgenössischen Künstlern koloriert, um die Holzschnitte lebendiger und ansprechender zu gestalten. Das Werk hatte einen beträchtlichen Einfluss auf die Verbreitung von Wissen und das Verständnis der Welt im späten Mittelalter. In mehreren Auflagen gedruckt, wurde es in verschiedenen Städten Europas verbreitet.

Die Schedel’sche Weltchronik spiegelt den Übergang von der mittelalterlichen Denkweise zur beginnenden Renaissance wider und zeigt das gesteigerte Interesse an Wissenschaft, Geographie und Geschichte. Es wird angenommen, dass etwa 1.300 bis 1.500 Exemplare gedruckt wurden, und aufgrund der hohen Anzahl von Illustrationen und der aufwendigen Produktion ist die Weltchronik heute ein begehrtes Sammlerstück auf dem Antiquariat- und Auktionsmarkt.

Die Bayerische Staatsbibliothek in München besitzt eine der umfangreichsten Sammlungen von Exemplaren der Schedel’schen Weltchronik. Insgesamt ist die Weltchronik nicht nur ein historisches Dokument, sondern auch ein Kunstwerk, das die Drucktechniken, das Wissen und die kulturelle Atmosphäre des späten 15. Jahrhunderts widerspiegelt. Ihr Einfluss auf die Verbreitung von Informationen und die visuelle Darstellung von Geschichte macht sie zu einem bedeutenden Teil der Inkunabelzeit.

 

Erhard Ratdolts »Calendarius« des Königsberger Astronomen, Mathematikers und Verlegers Johann(es) Müller (Regiomontanus, 1436–1476) in deutscher Sprache, Venedig 1478. Titelblatt mit Rankenwerk und Druckernamen. Quelle: Wikimedia Commons, gemeinfrei.
Erhard Ratdolts »Calendarius« des Königsberger Astronomen, Mathematikers und Verlegers Johann(es) Müller (Regiomontanus, 1436–1476) in deutscher Sprache, Venedig 1478. Titelblatt mit Rankenwerk und Druckernamen. Quelle: Wikimedia Commons, gemeinfrei.

Namhafte deutsche Inkunabeldrucker (Wiegendrucker) zwischen 1440 und 1500 sind beispielsweise Johannes Gutenberg in Mainz, Peter Schöffer (um 1425/1430–1502/1503) in Mainz, Erhard Ratdolt (1447–1527/1528) in Augsburg, Albrecht Pfisterer (um 1420–1466) in Bamberg, Anton Koburger (um 1440–1513) in Nürnberg, Günther Zainer in Augsburg (o.A.– 1478) und Johannes Mentelin (um 1410–1478) in Straßburg.

Das in den Jahren 1826 bis 1838 erstellte »Repertorium bibliographicum« des Schriftstellers, Lexikographen und Bibliographen von Inkunabeln Ludwig Friedrich Theodor Hain (1781–1836) ist ein erstes relevantes, wenn auch unvollständiges Verzeichnis von 16.299 Inkunabeln;erst seit 1998 liegt der von Konrad Haebler (1857–1946) redigierte »Gesamtkatalog der Wiegendrucke« vor.

Die teuersten Inkunabeln der Welt erzielen auf Auktionen immer wieder beeindruckende Preise. Die Gutenberg-Bibel, besonders wenn sie auf Pergament gedruckt ist, gehört zu den kostbarsten. Ein weiteres hochbegehrtes Werk ist die »Catholicon« von Johann Balbus de Janua aus dem Jahr 1460.

Um einen Einblick in die Preise von Inkunabeln zu geben, sind hier nur fünf Beispiele aufgeführt:

Gutenberg-Bibel (1452–1455)
Verkaufsort: Auktionshaus Sotheby’s
Verkaufspreis: Schätzungsweise 21 Millionen US-Dollar
Datum: November 1987

Schedel’sche Weltchronik (1493)
Verkaufsort: Christie’s, New York
Verkaufspreis: 955.000 US-Dollar
Datum: April 2013

Calendarius von Erhard Ratdolt (1478)
Verkaufsort: Bonhams, New York
Verkaufspreis: 149.000 US-Dollar
Datum: Oktober 2018

42-zeilige Gutenberg-Bibel (1455)
Verkaufsort: Sotheby’s, New York
Verkaufspreis: 5,4 Millionen US-Dollar
Datum: November 1987

Catholicon von Johann Balbus de Janua (1460)
Verkaufsort: Christie’s, New York
Verkaufspreis: 1,6 Millionen US-Dollar
Datum: Juli 2015

Die Buchumschläge wurden nicht von den Offizinen, sondern individuell von Klosterbuchbindern, bürgerlichen Buchbindern und »Studentenbuchbindern« angefertigt, die direkt vom Buchbesitzer beauftragt wurden. Ein interessanter Aspekt der Buchgestaltung war der Einsatz von »Schmutztiteln«, die den Buchblock vor Farbabdruck, Abrieb und Transportschäden schützten und später oft entfernt wurden. 5)

Die meistverwendeten Schriftarten in Inkunabeln sind Gebrochene Schriften, z.B. die Textura oder Fraktur, sowie frühe Antiquas. Deren kursive Formen und Ligaturen weisen noch deutliche Ähnlichkeiten zur mittelalterlichen Handschriftenpraxis auf.

Die mit fast 28.000 Titeln weltgrößte Inkunabelkollektion besitzt die British Library in London. 6) Deutschlands umfangreichste Wiegendruck-Sammlung (16.785 Exemplare bei 9.573 Titeln) befindet sich in der Bayerischen Staatsbibliothek in München. 7) Vorsichtige Schätzungen gehen davon aus, das etwa 45.000 Inkunabeln (Titel) mit einer durchschnittlichen Auflage von 400 bis 500 Stück gedruckt worden sind.8)  9)

© Wolfgang Beinert, www.typolexikon.de

Quellen / Literatur / Anmerkungen / Tipps:
Quellen / Literatur / Anmerkungen / Tipps:
1 Literaturempfehlung: Hain, Ludwig: Repertorium bibliographicum, in quo omnes libri ab arte typografica inventa usque ad annum MD typis expressi recensentur, Vol. I & II, Stuttgart und Tübingen 1826-1838.
2 Literaturempfehlung: Haebler, Konrad: Der italienische Wiegendruck in Original-Typenbeispielen mit 120 Inkunabelproben, München 1927.
3 Literaturempfehlung: Haebler, Konrad: Typenrepertorium der Wiegendrucke, Abt. 1-5, Halle & Leipzig, 1905-1924, Neudruck bei Nendeln, Wiesbaden 1968.
4 Literaturempfehlung: Haebler, Konrad: Handbuch der Inkunabelkunde. Neudruck, Stuttgart 1966.
5 Anmerkung: Um das gedruckte Buch beim Stapeln vor Farbabdruck, Abrieb und Transportschäden zu schützen, wurde der Buchblock mit einem sogenannten »Schmutztitel« versehen, der später vom Buchbinder meist entfernt wurde. Dieser Arbeitsschritt ist heute nicht mehr nötig, der Begriff »Schmutztitel« ist jedoch in der Buchgestaltung bis heute in einem anderen Kontext gebräuchlich.
6 Bibliotheksempfehlung: Die umfangreichste Wiegendruck-Sammlung der Welt mit über 12.500 Inkunabeln befindet sich in der British Library, 96 Euston Road, London NW1 2DB, Vereinigtes Königreich, https://www.bl.uk.
7 Bibliotheksempfehlung: Deutschlands umfangreichste Wiegendruck-Sammlung (16.785 Exemplare bei 9.573 Titeln) befindet sich in der Bayerischen Staatsbibliothek, Ludwigstraße 16, 80539 München, www.bsb-muenchen.de.
8 Literaturempfehlung: Mazal, Otto: Paläographie und Paläotypie, Zur Geschichte der Schrift im Zeitalter der Inkunabeln, Verlag Anton Hiersemann, Stuttgart, 1984, ISBN-10: 3777284203 und ISBN-13: 978-3777284200.
9 Museumsempfehlung: Gutenberg-Museum, Liebfrauenplatz 5, 55116 Mainz, www.gutenberg-museum.de.
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Seminar »Typografie im Grafik- und Kommunikationsdesign«
Berlin
Berlin-Mitte, Friedrichstraße
21. November 2025

Hamburg
Hamburg-Altstadt, Ballindamm
24. November 2025

Düsseldorf
Düsseldorf-Stadtmitte, Königsallee
25. November 2025

Frankfurt
Frankfurt-Westend, Schumannstraße
26. November 2025

Stuttgart
Stuttgart-Mitte, Königstraße
27. November 2025

München
München-Altstadt, Karlsplatz
28. November 2025

Wien
Wien-Favoriten, Hauptbahnhof
1. Dezember 2025