Schriftsippe
»Schriftsippe« ist ein typografischer Terminus für eine Gruppe zusammengehöriger Schriftfamilien aus unterschiedlichen Schriftarten (Schriftuntergruppen), die typometrisch aus einer Grundschrift entwickelt wurden und deren Buchstaben, Ziffern und Sonderzeichen in der Regel die gleichen Grundformen und Proportionen besitzen, jedoch unterschiedliche Klassifikationsmerkmale aufweisen; Schriftgroßfamilie; Polyschriftsystem; eng. Superfamily.
Etymologisch von lt. »scriptum« zu »scribere« für dt. »Schreiben« bzw. »Schrift« und »Sippe« von mhd. »sippe« bzw. got. »sibja« für »Verwandtschaft« bzw. idg. »sebho« für »eigene Art«. Im Deutschen wurde »Sippe« im 18. Jh. insbesondere in der Wissenschaft im Sinne von »Verwandtschaftsverhältnis« wiederbelebt.

Schriftsippen umfassen in der Regel Schriftschnitte (Schriftstile) aus den Hauptschriftgruppen Antiqua, Grotesk und Egyptienne in jeweils unterschiedlichen Schriftbreiten (z.B. schmal oder breit), Schriftlagen (z.B. normal oder kursiv) und Schriftstärken (z.B. mager oder fett) – vereinzelt auch Antiqua Varianten (z.B. Zierschriften), dicktengleiche Schriften (z.B. Monospaced Fonts), spezielle Ziffernsätze (z.B. Tabellenziffern oder Kapitälchenziffern), musikalische oder wissenschaftliche Zeichensätze (z.B. mathematische Zeichen) und Nichtrömische Schriften (z.B. kyrillisch).

Vorteile von Schriftsippen
Schriftsippen, beispielsweise die Corporate A-S-E 1) oder die Compatil™,2) werden heute als Schriftsysteme verstanden, um effizient komplexe typografische Anforderungen im Corporate Publishing zu lösen.
- Schriftsippen sind in Ihrer Anwendung einfach zu handhaben. Mikrotypografisches Wissen ist – im Vergleich zur extrafamiliären Schriftmischung – kaum nötig.
- Schriftsippen verfügen in der Regel über viele unterschiedliche Schriftschnitte, die vom Schriftgestalter:in aufeinander abgestimmt sind. Sie eigenen sich deshalb besonders gut, um komplexe semantische Typologien in eine typografische Auszeichnungsmatrix umzusetzen (siehe Schriftmischung).
- Schriftsippen sparen bei extrafamilären Schriftauszeichnungen spürbar Zeit, da Oberlängen, Mittellängen und Unterlängen nicht angepasst werden müssen.
- Schriftsippen verfügen in allen Hauptschriftgruppen über die gleichen Hauptschriftlinien, weshalb Schriftmischungen auch bei lauten Auszeichungen harmonisch wirken.
- Schriftsippen verfügen oft über einen außergewöhnlichen großen Zeichenvorrat. Sie eigenen sich deshalb oft auch als Expertensätze, um komplexe Medien zu setzen, beispielsweise Geschäftsberichte, wissenschaftliche Bücher oder Zeitungen.
- Schriftsippen verfügen oft über dicktengleiche Formvarianten, Tabellenziffern und Nichtrömische Alphabete, was eine »Corporate Typography« vereinfacht.
- Dicktenkompatible Schriftsippen sind im Gemischten Satz und bei Animationen in Websites (z.B. Hover-Effekte) empfehlenswert, da alle ihre Figuren schnell austauschbar sind, ohne dass sich dabei die Satzbreite oder der Umbruch ändert. Ebenso können im Nachhinein laute und leise Schriftauszeichnungen vorgenommen werden, was bei der Umsetzung einer semantisch-typografischen Auszeichnungsmatrix sehr hilfreich ist.

Vertreter von Schriftsippen
Dual-, Trilogie- und Polyschriftsysteme
| Schriftsippe | Schriftgestalter/in | Font Foundry | Jahr |
|---|---|---|---|
| Arccus | Heitmann, Hans R. | Finaltype | 2020 |
| Authentic | Huschka, Karin | Linotype | 1999 |
| Compatil® | Bilz, Silja Faulhaber, Erik Haus, Reinhard Leu, Olaf | Linotype | 2001 |
| Corporate A-S-E | Weidemann, Kurt | URW | 1990 |
| Foundry | Quay, David Sack, Freda | Linotype | 1989 |
| Guardian | Barnes, Paul Schwartz, Christian | Commercial Type | 2005 |
| Komplex | Heitmann, Hans R. | Finaltype | 2020 |
| Legst | Heitmann, Hans R. | Finaltype | 2021 |
| Lucida | Bigelow, Charles Holmes, Chris | Lucida® Fonts | 1984 |
| Meta | Spiekermann, Erik | FontFont | 1991–2010 |
| Nexus | Majoor, Martin | FontFont | 2004 |
| Officina ITC | Chaeva, Isabella Schäfer, Ole Spiekermann, Erik van Rossum, Just | Adobe Elsner+Flake ITC ParaType | 1990 |
| Quadraat | Smeijers, Fred | FontFont | 1992 |
| Rotis | Aicher, Otl | Agfa Linotype | 1989 |
| Scala | Majoor, Martin | FontFont | 1990–1993 |
| Stone | Stone, Summer | ITC | 1987–2010 |
| Syntax | Meier, Hans Eduard | Linotype Stempel | 1968–1995 |
| Thesis | de Groot, Lucas | LucasFonts | 1994–2000 |
Bezugsquellen von Schriftsippen
Schriftsippen werden von Font Foundries als Kollektionen, in Schriftfamilien und in Form von einzelnen Schriftschnitten in unterschiedlichen Font Technologien (z.B. TTF, OTF, Webfonts) angeboten (siehe auch Schriftwahl). 3)
© Wolfgang Beinert, www.typolexikon.de
Quellen / Literatur / Anmerkungen / Tipps:[+]
| ↑1 | Anmerkung: Die Corporate A-S-E wurde Ende der 1980er Jahre im Auftrag der Daimler Benz AG (E. Reuter, Mercedes) von Kurt Weidemann (1922–2011) entworfen, von Kurt Stecker gezeichnet, von Günter Gerhard Lange (1921–2008) in der Protovariante »gefinisht« und von URW digitalisiert. |
|---|---|
| ↑2 | Anmerkung: Das Schriftsystem Compatil® wurde unter der Regie von Olaf Leu von Silja Bilz, Erik Faulhaber und Reinhard Haus für die Linotype GmbH entworfen. |
| ↑3 | Tipp: Da es keine Norm für die Ausstattung von Schriftsippen gibt, ist es ratsam, vor dem Kauf bzw. vor der Anwendung den Umfang und die Qualität der Typometrie (z.B. Dicktenkompatibilität) zu prüfen. Denn Schriftsippe ist nicht gleich Schriftsippe! |