Textura
Höchstentwickelte kalligrafische Buchschrift der Gotik und »Prototype« der Typografie. Schriftart; Hauptschriftgruppe, die in der typografischen Schriftklassifikation zur Schriftgattung der Gebrochenen Schriften gehört. Auch als »Missalschrift«, »Psalterschrift«, Textur bzw. Texturalis (Textschrift) bezeichnet.
In der Paläografie nimmt die Textura, die als liturgische Hauptbuchschrift der Gotik bezeichnenderweise auch »Missalschrift« oder »Psalterschrift« genannt wird, eine zentrale Stellung ein. Sie entwickelt sich um 1300 aus der frühgotischen Minuskel und gehört bis zum Ende des 15. Jahrhunderts gemeinsam mit der Rotunda zu den kalligrafischen Hochformen der »Littera textualis formata«.
Die Bezeichnung »Textura« – lateinisch für »Gewebe – stammt vermutlich aus der Mitte des 15. Jahrhundert, 1) um damit das dicht geschlossene, texturartig verwobene Schriftbild einer handgeschriebenen gotischen Buchseite zu veranschaulichen, wie sie bereits seit dem 12. Jahrhundert in Europa üblich war. 2)
Augenfällige Merkmale der Textura sind die gebrochenen Rundungen, die an Spitzbögen der gotischen Kathedralarchitektur erinnern, sowie das filigrane Wechselspiel von Haar- und Schattenstrichen, beide bedingt durch die Verwendung eines Federkiels anstelle des pflanzlichen Schreibrohres (Kalamos).

Charakteristisch ist auch die Betonung der Vertikale durch die Streckung der Buchstabenschäfte und die sich immer deutlicher ausprägende Tendenz, die Gabelungen am Ansatz zu einer kantigen Verstärkung umzuformen, deren Resultat schließlich auf die Spitze gestellte Quadrate oder Rechtecke sind. Auch wenn die Textura eine strukturell sehr einheitliche Schrift ist, zeigt ihr Duktus doch künstlerisch-grafische Modifikationen.
In der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts nennt erstmals der deutsche Kalligraf Johann van Haghen (o.A., alternative Schreibweisen: Johannes vom Hagen und Johann von Hagen) aus Bodenwerder (Weser) als Spielformen beispielsweise eine lockere Textura mit abgerundeten Füßchen (»textus rotundus«), eine Textura mit scharf gebrochenen Füßchen (»textus semiquadratus«), sowie eine kompliziert auszuführende und darum nur für Luxushandschriften verwendete Textura mit horizontal zugeschnittenen Füßchen (»textus prescisus vel sine pedibus«); die klassische Form bezeichnet Hag(h)en als »Quadrattextur« (»textus quadratus«), weil ihr Charakteristikum die an Kopf und Fuß des Schaftes auf die Spitze gestellten Quadrate sind.
Beginnend mit Johannes Gutenberg (um 1400–1468), dem Erfinder der Typografie, wird die Textura buchstäblich zur Prototype der deutschen Druckschriften. Vorbildwirkung haben neben den spätgotischen Manuskripten auch die sogenannten »Blockbücher« oder »xylographischen Kodizes«, die im Holzschnittverfahren hergestellt wurden. Innerhalb weniger Jahre perfektioniert Gutenberg die Urtype der Ablaßbriefe und die Donat-Kalender-Type zur Quadrattextur, mit der 1454 in der Gutenberg-Fustschen Offizin die 42zeilige Bibel traditionsgemäß im für liturgische Werke üblichen zweispaltigen Schriftsatz gedruckt wird.


Gutenbergs Quadrattexturatype zeigt alle Merkmale dieser Minuskelschrift in ausgeprägter Form: das schmale, gitterartige Textbild mit hoher Letterndichte, die Brechung der Bogen, die Quadrangeln an den oberen und unteren Abschlüssen der Mittelschäfte und die geringe Betonung der Oberlängen, das zweibäuchige »a«, die quadratischen Füßchen und die Vielzahl der Ligaturen und Abbreviaturen. Charakteristisch ist auch das höchstwahrscheinlich von Peter Schöffer (um 1425/1430–1502/1503) kalligrafisch formvollendete System der Anschlußbuchstaben und das dadurch erzielte geometrisch geschlossene Schriftbild ohne störende weiße Flächen zwischen den Lettern.
Aus der Textura entwickelte sich im Laufe der Zeit die sogenannte Fraktur. Die Fraktur ist eine weitere Variante der gebrochenen Schriften und hat ihre Wurzeln in der Textura, insbesondere in der gotischen Textschrift. Diese Schriftart wurde im deutschen Sprachraum weit verbreitet und während des 16. bis 20. Jahrhunderts für gedruckte Texte verwendet.
Die Fraktur zeichnet sich durch ihre charakteristischen gebrochenen Linien, spitzen Winkel und die Verwendung von Schatten und Haarstrichen aus. Ähnlich wie die Textura hat die Fraktur eine künstlerisch-dekorative Qualität, jedoch mit spezifischen stilistischen Merkmalen, die sie von anderen Schriftarten unterscheiden.
Es ist wichtig zu beachten, dass die Fraktur im Laufe der Zeit verschiedene regionale Variationen und stilistische Entwicklungen erfahren hat. Obwohl sie eine gewisse Ähnlichkeit mit der Textura aufweist, hat die Fraktur ihre eigene historische Bedeutung und prägte maßgeblich das Schriftbild in deutschsprachigen Ländern bis ins 20. Jahrhundert.
Obwohl – außerhalb von Deutschland – die Textura als Textschrift schon bald durch die Entwicklung der Gotico-Antiqua und besonders der Venezianischen Renaissance-Antiqua konkurrenziert, kann die Textura als Auszeichnungsschrift für Titel und Kapitelüberschriften ihre Dominanz bis weit über das Ende der Inkunabelzeit um 1500 hinaus behaupten, in den Niederlanden als »Nederlandtsche Textur« sogar bis in den Barock. 3) 4) 5) 6)
Der typografische Mittelname »Text« geht auf die von Johannes Gutenberg verwendete Textura zurück.
Vertreter dieser Hauptschriftgruppe
Texturas (Auswahl):
| Schrift | Schriftgestalter/in | Font Foundry | Jahr |
|---|---|---|---|
| Altenglisch(e) Gotisch | o.A. | D. Stempel | um 1775 |
| Caslon Gotisch | Caslon, William | D. Stempel | vor 1763 |
| Cloister Black | Barnhart Brothers & Spindler | Linotype-Hell | um 1890 |
| Fleischmann Gotisch | Fleischmann, Johann Michael | D. Stempel | um 1750 |
| Gutenberg Bibelschrift | Wunderlich, C.H. | Free Font | 1996 |
| Gutenberg Textura | Steffmann, Dieter | Free Font | 2000 |
| Hallmark Textura | o.A. | Hallmark Cards | 1969 |
| Linotext | Benton, Morris Fuller | Linotype-Hell | 1901 |
| Manuskript Gotisch | o.A. | Bauersche Gießerei | 1899 |
| Maximilian | Koch, Rudolf | Gebr. Klingspor | 1913-1914 |
| Wilhelm-Klingspor-Schrift | Koch, Rudolf | Gebr. Klingspor | 1920–1926 |
Textura in Kalligrafie und Typografie
Die Unterschiede zwischen kalligrafischer und typografischer Textura sind vielschichtig und betreffen verschiedene Aspekte der Schriftgestaltung und Produktion. Hier sind einige wesentliche Unterschiede:
Herstellungsprozess
Kalligrafische Textura: Bei der kalligrafischen Textura handelt es sich um eine handschriftliche Form der Schrift, die von Hand mit einem Schreibwerkzeug wie einem Federkiel erstellt wird. Kalligraf:innen verwenden ihre Fähigkeiten, um die Buchstaben kunstvoll und individuell zu gestalten.
Typografische Textura: Im Gegensatz dazu bezieht sich die typografische Textura auf maschinell erstellte Schriften, die mit Hilfe von Drucktechniken, insbesondere im Bereich der Typografie, produziert werden. Hier kommen Druckmaschinen und später digitale Technologien zum Einsatz.
Einzigartigkeit der Buchstaben
Kalligrafische Textura: In kalligrafischen Werken kann jeder Buchstabe einzigartig gestaltet sein. Kalligraf:innen können Variationen in Form, Größe und Verbindung der Buchstaben einführen, um ein individuelles und ästhetisch ansprechendes Erscheinungsbild zu erzeugen.
Typografische Textura: Typografische Schriften sind standardisiert und reproduzierbar. Jeder Buchstabe hat eine festgelegte Form, und die Schrift wird in der Regel so gestaltet, dass sie konsistent und gut lesbar ist. Dies ermöglicht eine effiziente Massenproduktion.
Anpassungsfähigkeit
Kalligrafische Textura: Kalligrafen können ihre Schrift flexibel an verschiedene Kontexte, Materialien und Stile anpassen. Jedes kalligrafische Werk kann eine persönliche Note und künstlerische Freiheit des Schreibers zeigen.
Typografische Textura: Typografische Schriften sind aufgrund ihrer Standardisierung weniger flexibel in der Anpassung. Sie sind jedoch gut geeignet für konsistente und klare Darstellungen in gedruckten Materialien.
Verbreitung und Zugänglichkeit
Kalligrafische Textura: Kalligrafische Arbeiten sind oft Unikate oder in kleiner Stückzahl vorhanden. Sie haben eine begrenzte Verbreitung und sind oft in Kunstwerken, handschriftlichen Büchern oder speziellen Dokumenten zu finden.
Typografische Textura: Typografische Textura-Schriften können leichter reproduziert und verbreitet werden. Sie sind weit verbreitet in gedruckten Büchern, Zeitschriften, Plakaten und anderen Massenmedien.
Diese Unterschiede verdeutlichen die verschiedenen kreativen und funktionellen Anwendungen der kalligrafischen und typografischen Textura in unterschiedlichen historischen und zeitgenössischen Kontexten.
Textura der Inkunabelzeit
In der Inkunabelzeit, also der Zeitperiode unmittelbar nach der Einführung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern durch Gutenberg bis zum Jahr 1501, gab es zahlreiche Textura-Schriften, die von verschiedenen Druckern verwendet wurden. Hier einige Beispiele:
Schöffer-Linie
Drucker: Peter Schöffer
Beschreibung: Peter Schöffer, ein Partner von Johannes Gutenberg, entwickelte verschiedene Textura-Schriften. Seine Schriften zeichneten sich durch klare Linien und gut definierte Buchstaben aus.
Koberger-Linie
Drucker: Anton Koberger (1440–1513)
Beschreibung: Anton Koberger, einer der erfolgreichsten Drucker des 15. Jahrhunderts, verwendete ebenfalls Textura-Schriften. Seine Ausgaben waren bekannt für ihre klare Lesbarkeit und Ästhetik.
Aldus-Manutius-Linie
Drucker: Aldus Manutius (1449–1515)
Beschreibung: Aldus Manutius, ein italienischer Drucker und Verleger, trug zur Verbreitung der Textura bei, insbesondere in seinen humanistischen Texten. Seine Schriften zeichneten sich durch Eleganz und Präzision aus.
Sweynheym und Pannartz
Drucker: Conrad Sweynheym (o.A.–um 1474/1477) und Arnold Pannartz (o.A.–um 1476)
Beschreibung: Dieses Duo, das in den 1460er Jahren in Rom arbeitete, verwendete ebenfalls Textura-Schriften in ihren Drucken. Ihre Werke trugen zur Verbreitung der Renaissance-Antiqua in Italien bei.
Berühmte Bücher, die in der Textura gedruckt wurden
Die Textura wurde vor allem während der Inkunabelzeit, also in den Jahren vor 1501, verwendet. Während dieser Zeit der Prototypografie wurden viele klassische Werke in der Textura gedruckt, insbesondere durch Pioniere wie Johannes Gutenberg, den Erfinder der Typografie. Hier sind einige berühmte Bücher, die in der Textura gedruckt wurden:
42-zeilige Bibel von Johannes Gutenberg (um 1400–1468)
Drucker: Johannes Gutenberg
Jahr: 1454
Bedeutung: Dieses Werk gilt als das erste größere Buch, das mit beweglichen Metalllettern gedruckt wurde.
Catholicon von Johann Balbus von Genf (um 1285–1347)
Drucker: Johann Balbus (o.A.)
Jahr: 1460
Bedeutung: Ein bedeutendes mittellateinisches Wörterbuch, das in der Textura gedruckt wurde.
Durandus Rationale Divinorum Officiorum von Guilelmus Durandus (1237–1296)
Drucker: Anton Koberger
Jahr: 1473
Bedeutung: Ein liturgisches Werk über die Bedeutung der kirchlichen Riten.
Ars Memorativa von Petrus de Rosenheim (um 1400–1468)
Drucker: Johann Zainer (um 1440–1541)
Jahr: 1479
Bedeutung: Ein Werk über mnemonische Techniken.
© Wolfgang Beinert, www.typolexikon.de
Quellen / Literatur / Anmerkungen / Tipps:[+]
| ↑1 | Quelle u.a.: Kuchenbuch, Ludolf und Uta Kleine (Hg.): ›Textus‹ im Mittelalter: Komponenten und Situationen des Wortgebrauchs im schriftsemantischen Feld, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, ISBN 3-525-35868-7, Seite 203. |
|---|---|
| ↑2 | Literaturempfehlung: Mazal, Otto: Paläographie und Paläotypie. Zur Geschichte der Schrift im Zeitalter der Inkunabeln, Verlag Anton Hiersemann, Stuttgart 1984. |
| ↑3 | Literaturempfehlung: Tschichold, Jan: Meisterbuch der Schrift, Otto Maier-Verlag Ravensburg 1952, ISBN 10: 347361100X und ISBN 13: 9783473611003. |
| ↑4 | Literaturempfehlung: Crous, Ernst und Joachim Kirchner: Die gotischen Schriftarten, Klinkhardt und Biermann, Leipzig, 1928 (und Nachdruck 1970). |
| ↑5 | Literaturempfehlung: Mazal, Otto: Buchkunst der Gotik, Akademische Druck- u. Verlagsanstalt, Graz, 1975, ISBN 10: 3201009490 ISBN 13: 9783201009492. |
| ↑6 | Literaturempfehlung: Kapr, Albert: Fraktur. Form und Geschichte der gebrochenen Schriften, Verlag Hermann Schmidt, Mainz, 1993. ISBN 3-87439-260-0. |