Schriftmischung
Terminus aus dem gewerbespezifischen Sprachschatz deutschsprachiger Typografen:innen für das »Mischen« von zwei oder mehreren Schriftgattungen, Schriftarten und/oder Schriftstilvarianten innerhalb eines geschlossenen Schriftsatzes.
URSPRUNG UND HISTORIE
Die Verwendung von unterschiedlichen Schriften innerhalb einer Textarbeit war bereits in der Antike den Ägyptern, Griechen und Römern bekannt. Sie gebrauchten für ihre in Stein gehauenen Inschriften verschiedene Schriftgattungen und Schriftarten, um einerseits Textpassagen systematisch zu gliedern oder darüber hinaus auch den historischen und sozio-linguistischen Kontext zu verdeutlichen.
Zu den bekanntesten Epigraphen dieser Art gehören u.a. ägyptische Priester-Dekrete, beispielsweise der Rosetta-Stein (196 v. Chr.). Das skripturale Schriftmischen entwickelte sich in Westeuropa im 9. Jahrhundert vor allem mit der Ausbildung der Verszeile bzw. des Versals. Besonders in Evangeliaren, Bibeln und Brevieren – welche überwiegend in ihrer Grundschrift in Minuskeln verfaßt waren – wurden Überschriften, Einleitungstexte und Zeilenanfänge, sogenannte Rubriken, meist in Majuskeln – mit rötlichen Tinten, Tuschen oder Temperafarben – hervorgehoben.

Im Mittelalter wurde das ästhetisch und bibliophil motivierte Schriftmischen besonders kultiviert und bereits in der Gotik gehörte das Kombinieren von unterschiedlichen Schriftgattungen und Schriftstilvarianten in liturgischen Prachthandschriften, naturwissenschaftlichen und juristischen Kodizes sowie Manuskripten der literarischen Werke klassisch-antiker Autoren zum Standardrepertoire jedes versierten Kalligraphen.
In der Frührenaissance wurde diese Schreibtechnologie von der Typografie übernommen, imitiert und für den Druck mit beweglichen Lettern adaptiert. So mischte der Prototypograf Johannes Gutenberg (um 1400–1468), beispielsweise in seinen »Zyprischen Ablaßbriefen« von 1454/55 eine kleine halbgotische Druckbastarda, mit einer großdimensionierten Textura gotischen Ursprungs. Die primär typologisch und morphologisch motivierte Schriftmischung entwickelte sich in der Hochrenaissance mit Zunahme an wissenschaftlicher und metasprachlicher Literatur, also mit Steigerung des semantischen Präzisionsgrads sprachlicher Darstellung.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts erfolgte in der Gebrauchsgrafik (siehe auch Grafikdesign), in der Kunst- und ganz besonders in der Buchtypografie der literarischen Avantgarde – gemeint ist hier die »visuelle Poesie« der Dadaisten und Futuristen – eine geradezu radikale Neuorientierung des Schriftmischens.
MOTIVE
Abgesehen von ästhetischen und künstlerischen Ambitionen ermöglicht es die Technik der Schriftmischung, eine Schriftsatzarbeit systematisch zu gliedern, sie also im Sinne der Mediendidaktik verständlicher zu machen. Ebenso kann durch Schriftmischung die Ausdrucksmöglichkeit einer Sprache in ihrer Schriftlichkeit erweitert werden. Schriftmischung ist also auch eine Methode, rhetorische Prozesse sichtbar zu machen und unterschiedliche Artikulationsebenen einprägsam zu konstruieren.
Grundsätzlich fördert effektive Schriftmischung die Lesemotivation und ermöglichen das raschere Querlesen oder schnellere Auffinden einer bestimmten Textpassage. Lesetests im Segment der Lesetypografie weisen regelmäßig nach, dass Rezipienten in kürzester Zeit lernen, Schriftauszeichnungen zuzuordnen und zu ihrem Vorteil zu nutzen. Insbesondere bei Schnell- oder Querlesern und Personen mit hoher Lesekompetenz können Schriftauszeichnungen vor allem die Fixationsprozesse während der Lektüre sinnvoll unterstützen.
Schriftmischung ist also ein wichtiger Parameter, um komplexe Inhalte klar, schnell und erfolgreich zu vermitteln. Als wesentliches Element der Typografie trägt die Schriftmischung natürlich auch dazu bei, den bibliophilen und damit merkantilen Wert eines Druckwerks oder einer Multimedia-Arbeit zu steigern.
Im »Internet der Dinge« (Semantic Web, Web 3.0) wird die semantisch optimierte Schriftmischung auch im Rahmen der SEO (Search Engine Optimization) zunehmend zu einer Notwendigkeit, um der schieren Datenflut durch die Zuordnung von bloßen Daten zu einem Kontext Herr zu werden.
DEFINITION
Unter Schriftmischung versteht die Typografie heute die Kombination von zwei oder mehreren Schriftgattungen, Schriftarten und/oder Schriftstilvarianten (siehe Schriftklassifikation) innerhalb eines geschlossenen Schriftsatzes.
Makrotypografisch betrachtet ist Schriftmischung eine Methode, die Typologie eines Textes systematisch zu visualisieren und auch die Ausdrucksmöglichkeiten einer Sprache zu erweitern. Also beispielsweise Textpassagen mit einer anderen Schriftgattung, Schriftart und/oder Schriftstilvariante zu gliedern, hervorzuheben oder zu marginalisieren.
Schriftmischung ist aber auch ein mikrotypografisches Verfahren, die Ästhetik und Lesbarkeit einer Schriftsatzarbeit durch Austausch von einzelnen Buchstaben, Ziffern, Figuren oder Sonderzeichen zu optimieren.
Segmente der Schriftmischung
Integrale Schriftmischung
Sie gliedert eine Schriftsatzarbeit hierarchisch und konsequent in Textflächen bzw. Textmodule. Beispielsweise in Headlines, Einleitungstexte, Grundschrift, Kolumnen, Bildunterschriften, Quellenangaben, Legenden, Fußnoten, Marginalien etc. Jedes dieser Textmodule könnte in unterschiedlichen Schriftgattungen, Schriftarten oder Schriftstilen formatiert sein.

Selektive Schriftmischung
In der Selektiven Schriftmischung werden unterschiedliche Schriftgattungen, Schriftarten und/oder Schriftstilvarianten innerhalb einer Textpassage, einer Zeile, eines Wortes oder einer Zahlen- oder Buchstabenkombination miteinander gemischt bzw. ausgetauscht. Beispielsweise könnte hier das Hervorheben von Neueingefügtem durch eine andere Schriftart, das wort- und phrasenweise Zitieren durch eine andere Schriftstilvariante (statt Anführungszeichen) oder der Austausch von Tabellenziffern durch Mediävalziffern gemeint sein.
Differenziert wird zwischen harmonischer und disharmonischer Selektiver Schriftmischung. Harmonische Schriftmischungen sollen – im Gegensatz zu disharmonischen Schriftmischungen – vom Leser kaum oder nicht wahrgenommen werden.
Schriftauszeichnungen
Innerhalb der Selektiven Schriftmischung werden Schriftmischungen im »glatten Satz«, also innerhalb eines fortlaufenden Textes, »Auszeichnungen« genannt.
Dieser Begriff hat seinen Ursprung in der Inkunabelzeit der Jahre 1450 bis 1500. Denn Initialen, Rubriken, Lombarden, Illuminationen, Unterstreichungen und Auszeichnungsstriche konnten in den Anfängen der Typografie nur von Kalligraphen, Illuminatoren und Rubrikatoren händisch »ausgezeichnet« werden. Deshalb bezeichnet man auch auch heute noch die Schriftschnitte einer Schriftfamilie – extra des normalen Schnitts – als »Auszeichnungsschnitte«.
Die Typografie differenziert zwischen leisen und lauten Auszeichnungen. Die »Leise Auszeichnung« – auch als »Integrierte Auszeichnung« bezeichnet –, fügt sich harmonisch in das Schriftbild ein und wird vom Leser erst in der aktuellen Zeile wahrgenommen. Mit diesen Leisen Auszeichnungen sind Stilvarianten innerhalb einer Schriftfamilie gemeint, ausgehend von der Grundschrift, beispielsweise der kursive Stil oder die Kapitälchen einer Schriftfamilie.

Die »Laute Auszeichnung« hingegen sticht schon ins Auge, bevor der Leser die Textpassage erreicht hat. Sie wird deshalb auch als »Aktive Auszeichnung« bezeichnet. In der Regel versteht man darunter die Auszeichnung mit fetteren Schriftstilen innerhalb einer Schriftfamilie oder mit anderen Schriftarten; beispielsweise eine Antiqua im normalen Stil als Grundschrift und als Auszeichnungsschrift eine Grotesk im fetten oder halbfetten Stil.
Lyrische Schriftmischung
Sie ist primär individuell und emotional motiviert und findet vor allem im Grafikdesign, der Kunst-, Werbe- und Gebrauchstypografie Anwendung (z.B. die »visuelle Poesie« der Dadaisten). Im Bereich der klassischen Lesetypografie gilt die lyrische Schriftmischung in vielen Fällen als unvorteilhaft.

SEMANTISCH-TYPOGRAPHISCHE AUSZEICHNUNGSMATRIX
Weder in der Linguistik noch in der Typografie besteht Konsens über die Norm, die einer Auszeichnungsmatrix zugrunde zu legen ist. Es ist deshalb prinzipiell vorteilhaft, sich vor der gestalterischen Umsetzung ein Schema anzulegen, das fixiert, welche semantischen Auszeichnungsvorgaben anerkannt werden und welche typografischen Mittel man dafür wählt. Diese Vorgehensweise ermöglicht eine schnelle und präzise Implementierung einer Schriftsatzarbeit. Eine semantisch-typografische Auszeichnungsstruktur ist die Basis jeglicher Form effektiver Schriftmischung. Sie dokumentiert alle Korrelationen zwischen Semantik, Typografie, Schrift, Glyphe, Farbe und Bildzeichen.
Semantische Auszeichnungsstruktur
Die Konstruktion einer Auszeichnungsmatrix hängt natürlich vom Inhalt und Zweck einer Arbeit ab. So hat ein wissenschaftliches Buch in der Regel andere Auszeichnungsbedürfnisse als ein Veranstaltungsprogramm eines Kulturinstituts oder der Geschäftsbericht einer Hypothekenbank. Grundsätzlich sollte eine semantische Auszeichnungsstruktur vor der typografischen Gliederung fixiert werden.
Beispiel einer semantischen Auszeichnungsstruktur, ausgehend vom Fließtext in der Grundschrift:
Anmerkungen
Annäherung
Autor-Jahr-System
Begrifflichkeitsbetonung
Bibliographie
Bildunterschriften
Copy
Datum [Termine]
Eigennamen
Eintrittspreise
Fließtext [Grundschrift]
Fremdsprachlichkeit
Fußnoten
Glossar
Haupttitel
Headings 1–6 einer Website
Headlines
Hyper-Links
Hyper-Links
Inhalt
Interaktions-Links
Kapitelüberschriften
Kolumnentitel lebend
Kolumnentitel tot
Konsultationsziffern und -buchstaben
Legenden
Lexemerwähnung
Mathematische Formelschreibweisen
Metasprache
Name der Veranstaltung
Neueingeführter Künstlername
Neueingeführtes Wort
Noten [Musik]
Objektsprache kurz
Objektsprache lang
Pagina
Quellenangaben
Register
Satzakzent
Schmutztitel
Semiotische Faktoren
Sinnschwerpunkte
Spitzmarken
Sublines
Tabellen
Terminologieausdruck
Überschriften
Uhrzeiten
Veranstaltungsorte
Vortitel
Ziffern
Zitat kurz
Zitat lang
Zitate
Typografische Auszeichnungsstruktur
Eine typografische Auszeichnungsstruktur besteht in der Regel aus unterschiedlichen Schriftgattungen, Schriftarten und Schriftstilvarianten (siehe Schriftklassifikation), die harmonisch oder disharmonisch aufeinander abgestimmt werden und in Korrelation zur semantischen Auszeichnungsstruktur stehen.
Beispiel einer Auszeichnungsmatrix:
| Semantik | Typografie | Font | Glyphe | Farbe |
|---|---|---|---|---|
| Grundschrift | Antiqua normal | Concorde Nova normal | – | Schwarz |
| Headlines | Zierschrift | Tamplate Gothic bold | – | HKS 92 |
| Bildunterschriften | Grotesk normal | Frutiger schmal normal | – | Schwarz |
| Namen | Antiqua Kapitälchen | Concorde Nova Caps | Minuskeln | Schwarz |
| Ziffern | Mediävalziffern | Concorde Nova Caps | Mediävalziffern | Schwarz |
| Zitate | Antiqua kursiv | Concorde Nova Italic | – | Schwarz |
TYPOGRAFIE
Die Wahl von Schriften
Schriftmischung ist nicht nur eine Frage der Ressourcen und Lesbarkeit, sondern auch der Mode, des persönlichen Geschmacks und des ästhetischen Empfindens. Die Komposition einer typografischen Auszeichnungsstruktur bezieht sich immer auf die gewählte Grundschrift. Deren Qualität, Ästhetik und Vielfalt sind entscheidend für das Gelingen einer Schriftmischung. Die Wahl der Schriften, insbesondere der Grundschrift, hängt von der Aufgabenstellung ab und gehört zu den elementaren Grundlagen der Makrotypografie (Auswahlkriterien für Schriften siehe Schriftwahl).
Techniken des Schriftmischens
Die Typografie unterscheidet grundsätzlich familiäre und extrafamiliäre Schriftmischungen.
Familiäre Schriftmischung
Die Schriftmischung innerhalb einer Schriftfamilie ist die schlichteste Form der Schriftmischung, da der Schriftgestalter:in bereits alle Schriftstilvarianten seiner Schriftfamilie perfekt aufeinander abgestimmt hat. In der Regel sind diese harmonischen Schriftmischungen bereits seit Jahrhunderten erprobt. Um innerhalb einer Schriftfamilie zu mischen, sollte eine Schrift mindestens über den normalen Schriftstil, über Kapitälchen, den kursiven Stil und den halbfetten Stil oder den fetten Stil verfügen. Hervorragend eignen sich für familiäre Schriftmischungen sogenannte Expertensätze, wie beispielsweise die Renaissance-Antiqua »Minion« von Robert Slimbach.

Extrafamiliäre Schriftmischung
Das Mischen unterschiedlicher Schriftgattungen und Schriftarten gilt als die schwierigste Form der Schriftmischung. Denn sie setzt sowohl makrotypografisches als auch mikrotypografisches Wissen voraus. Ausgehend von der gewählten Grundschrift werden extrafamiliäre Schriftgattungen und Schriftarten meist für laute Auszeichnungen, Legenden, Marginalien, Rubriken, Bildunterschriften und separierte Darstellungsebenen verwendet.

Schriftmischung mit Schriftsippen
Das sicherste und zeitsparendste Verfahren, extrafamiliäre Schriften zu mischen, ist das Typografieren innerhalb einer Schriftsippe. Schriftsippen sind Schriftsysteme, die meist aus einer Antiqua-, einer Grotesk- und einer Egyptienne-Schriftfamilie bestehen. Manche Schriftsippen, beispielsweise die Corporate A-S-E von Kurt Weidemann (1922–2011), verfügen zusätzlich über Nichtrömische Schriftstile. Alle Schriftarten und die dazugehörigen Schriftstile einer Schriftsippe sind in der Regel aus einem Grundkörper (siehe auch Typometrie) entwickelt worden; ihre Figuren weisen die gleichen Grundformen und Proportionen auf oder wurden zumindest bewusst vom Schriftgestalter aufeinander abgestimmt.

Typometrische Vergleiche
»Welche Schrift zu welcher passt? Frage hundert Typografen:innen und du wirst hundert verschiedene Antworten erhalten!«. Sicher ist aber eines: In einer Zeit der babylonischen Schriftenvielfalt macht mehr denn je die Übung den Meister! Anders ausgedrückt: Hier zahlt sich Fleiß, gepaart mit Genauigkeit aus. Denn maßgeblich für die Ästhetik und die wirkungsvolle Dramaturgie einer Schriftmischung ist die bewusste Aufeinanderabstimmung unterschiedlicher Schriftvarianten. Hier entstehen – ausgehend von der Grundschrift – u.a. Spannung, Harmonie, Temperament und Modernität einer Schriftmischung. Wesentliche Parameter des Schriftenvergleichs sind die Typometrie (Letternarchitektur), die Schriftlinien, die Dickte, die Größen der Unterlängen, Mittellängen und Oberlängen der Figuren und die Schriftweite als solche.
Beispielsweise wirken harmonische Schriftmischungen erst dann kompatibel und scheinbar perfekt, wenn u.a. die x-Höhen und/oder die Majuskelhöhen (Versalhöhe) aufeinander abgestimmt sind. Dies geschieht durch die Vergrößerung oder Verkleinerung des Schriftgrades der jeweiligen Auszeichungsschrift.

Mikrotypografische Eingriffe durch Schriftmischung
Der Austausch von einzelnen Buchstaben, Ziffern, Figuren, Ligaturen oder Sonderzeichen kann die Ästhetik und die Lesbarkeit einer Schriftsatzarbeit optimieren.

Anforderungen
Die Technik des Schriftmischens erfordert logisches Denken, viel Sinn für Form, Struktur und Proportion, und sie setzt neben einer hohen Sprach- und Lesekompetenz auch die Fähigkeit zu kritischer Textinterpretation sowie psychologisch-analytisches Einfühlungsvermögen voraus. Formschöne, extrafamiliäre Schriftmischungen erfordern noch zusätzlich sehr viel Erfahrung im Umgang mit Schriften, makrotypografisches und mikrotypografisches Fachwissen und dazu hohe persönliche rezeptive Sensibilität. »Schriftmischen« gilt deshalb als Königsdisziplin der Typografie.
© Wolfgang Beinert, typolexikon.de